Insektensterben – Der Blick ins Detail

Autos und Stauseen als Verursacher des Insekten-und Artensterbens

Das Insektensterben ist alamierend und nicht nur eine Folge des Klimawandel. Die Ursachen sind vielfältig und wohin die Reise geht, sprich welche Auswirkungen das großflächige Verschwinden der Insekten Fauna hat, das läßt sich derzeit schwer abschätzen.

Dr. Bernhard Seidel ist Leiter eines Technisches Büros für Ökologie in Persenbeug in Niederösterreich. Er ist Buchautor und ein durchaus unbequemer Experte, wenn es um Fragen zur Ökologie geht. Als Landschaftplaner weiß er, was menschliche Eingriffe in die Natur bedeuten und was für zum Teil weitreichende Folgen diese haben. Oftmals geht es dabei um Tatsachen, die nicht nur unangenehm sind, sondern die uns Menschen letztlich zu Verhaltensänderungen zwingen werden. Wir haben ihn um seine Meinung zum Insektensterben gebeten.

Das Insektensterben geht durch alle Medien. Kommt der moderene Mensch, der in der Stadt lebt, mit dem Insektensterben überhaupt in Berührung?

Dr. Bernhard Seidel:
Das allmähliche Verschwinden der Insektenfauna wird in letzter Zeit immer wieder thematisiert. Als Ursache dafür werden hauptsächlich der globale Klimawandel und die industriell betriebene Landwirtschaft mit Pestiziden, Pflanzenschutz und künstlichen Düngemitteln angeführt. Ein einfacher und weitläufig verständlicher Indikator ist das zunehmende Fehlen von toten Insekten auf den Windschutzscheiben der Autos.

Tatsächlich fällt es auf, dass an Sommertagen und insbesondere in der nächtlichen Dämmerung wesentlich weniger Insekten auf den Vorderseiten der Autos kleben als früher. Diese Feststellung kann tatsächlich jede Person treffen, welche über Jahrzehnte regelmäßig ein Auto gefahren hat, ohne dazu quantitative Untersuchungen angestellt zu haben.

Worin liegen die Ursachen für das Insektensterben?

Dr. Bernhard Seidel:
Autofahrten lassen einem also indirekt diese bedrohliche Entwicklung erkennen. Denn bedrohlich ist es alle Mal, wenn eine gängige landwirtschaftliche Produktionsform, die über viele Jahre bestrebt war, die Schadinsekten von ihren Kulturen fernzuhalten, plötzlich erkennen muss, dass bereits mittelfristig ihr Ertrag durch das gleichzeitige Vernichten aller tierischen Lebensformen also auch der Nutzinsekten zurückgehen wird.

Und was das überall nicht mehr wegzudenkende Auto angeht, so haben bereits in den 80er Jahren Langzeitstudien an Amphibienbeständen ergeben, dass alleine die Frequenz von wenigen Fahrzeugen pro Woche entlang von einer Forststraße oder von einem Güterweg, zu einer unmittelbaren Degeneration und mittelfristig zu einer Vernichtung des Bestandes führt.

Autofahren als Ursache des Artensterbens?

Dr. Bernhard Seidel:
Wenn wir aber auf unsere vollmotorisierte Gesellschaft blicken und dazu die tägliche, wöchentliche und saisonale Frequenz von PKW-Fahrten auf Überlandstraßen mit mehr als 70 Stundenkilometern betrachten, dann kann man rein qualitativ oder auch quantitativ statistisch zu einem sehr bedenklichen Schluss gelangen. Es erscheint nämlich plausibel, dass die abnehmende Zahl an toten, auf den Autos klebenden Insekten nicht einfach nur ein Symptom des Insektensterbens ist, sondern dass unsere Autofahrten an sich ein Teil der Ursache des Rückgangs der Insektenpopulationen darstellen.

Das Gros der getöteten Insekten bleibt dabei gar nicht auf den exponierten Autoteilen kleben, sondern prallt davon auf Grund ihres Chitinaußenskelettes ab. Zudem werden Insekten auch ohne Aufprall alleine durch den Luftwirbel von schneller fahrenden Autos mit den plötzlich auftretenden Beschleunigungen im Flug in ihre Teile zerlegt, gegen Hindernisse abgelenkt oder an den Boden geschleudert. Vergleichbare Phänomene finden sich auch bei Hochgeschwindigkeitszügen, die entlang ihrer Strecke alle Kleinlebewesen wie auch Amphibien und Vögel in der Dimension eines großen Korridors durch einen gewaltigen Sog und durch Verwirbelungen vernichten.

Wie sind diese Entwicklungen zu erklären?

Dr. Bernhard Seidel:
Wenn man bedenkt, dass die Geschwindigkeit eines fliegenden Insekts etwa 10 bis 25 Kilometer beträgt und dieses Insekt auf Grund einer Verhaltensweise, die man als positive Lichttaxie bezeichnet, ihre Flugbahn auf das grelle Licht von den diversen Autoscheinwerfern hin ausrichtet, dann wird offensichtlich, dass auch langsamer fahrende LKW, Busse und Züge mit ihren großen Frontpartien, die Scheunentoren gleichen, tödliche Anlockfallen darstellen, denen massenhaft alle Arten von Insekten zum Opfer fallen. Darunter sind auch viele seltene Nachfalter und Schwärmer sowie dämmerungsaktive Arten, die sich bei hereinbrechender Finsternis aktiv auf diese Lichtquellen stürzen. Als Notlösungen wären andere Formen der Autobeleuchtung einzufordern, die weniger Lockwirkung haben. Auf alle Fälle gehörten die modernen grellen und kalten elektronischen Lichtquellen mit entsprechenden Filtern nachgerüstet.

Sehen Sie noch weitere Maßnahmen in Bezug auf auf den Artenschutz?

Dr. Bernhard Seidel:
Eine wesentliche Reduzierung der erlaubten Höchstgeschwindigkeiten während der Aktivitätsphasen von Insekten also bei höheren Lufttemperaturen und insbesondere in der Dämmerung und bei beginnender Nacht würde zu einer positiven Entwicklung beitragen. Aus diesen aber auch aus vielen anderen Gründen wäre generell zu einem konsequenten Verzicht auf nicht erforderliche Mobilität zu raten, denn viele Gliederfüßer sind bodenlebend und geraten daher regelmäßig auch auf Straßen. Bei nur 20 cm Reifenbreite, also mit Reifen der Dimension 195 oder 205, überrollt ein Fahrzeug auf 100 km Fahrtstrecke die gigantische Fläche von 40000 Quadratmeter also 0,04 Quadratkilometer; alle Gliederfüßler, wie Asseln, Hundert- und Tausendfüssler oder wandernde Schmetterlingsraupen, die auf diese Weise unter Räder kommen, werden gleichsam atomisiert und scheinen in keiner Statistik mehr auf.

Artschutz ist vieldimensional. Was trägt in Österreich noch zum Artensterben bei?

Dr. Bernhard Seidel:
Eine andere Tatsache, die zu unschätzbaren Ausmaßen von Artenvernichtung führte, war der Bau von Stauwerken an Gebirgsflüsse* wie etwa der Donau. Durch die viel zu breit angelegten Stauräume wird nämlich der kontinuierliche Transport von Partikeln fast gänzlich gestoppt, weil sich selbst die Kleinteile schon kilometerweit vor den Stau-Barrieren am Boden absetzen. Dadurch enststehen „riesige Schlamm – und Feinsedimentbänke“. Im Falle von Hochwasserabfluß werden Teile der Ablagerungen durch die höhere Schleppkraft des Wassers mitgerissen und diese setzen sich in ruhigeren Zonen wieder ab – also in überschwemmten Siedlungs- und Auwaldgebieten außerhalb des Flussbetts und an strömungsberuhigteren Uferbereichen.

Diese Ablagerungen können „manchmal meterhoch“ werden. Sie lagern dort ab, wo ursprünglich Schotter- und Steinuntergründe vorhanden waren, auf denen viele dynamische Lebensformen vorkamen. Die Lebensgemeinschaften der heimischen Uferlandschaft, welche eine enorme Biomasse ausgemacht haben, sind somit durch die angelandeten Feinmaterialien Stück für Stück verschwunden.

Flussregulierungen tragen somit zum Artensterben bei?

Dr. Bernhard Seidel:
Der natürliche Übergang von Wasser zum Flußufer bis hin zu angrenzenden Landbereichen zeichnet sich gewöhnlich durch besonders hohe Arten- und Strukturvielfalt aus. Man bezeichnet diesen Lebensraum als Ökoton und es bildet in allen Landschaften die Basis für eine funktionierende Nahrungskette. An solchen Standorten findet man heute eine stark entfremdete oder gar keine Bodenfauna mehr, die zur Umarbeitung des Falllaubes zu Humus in der Lage wäre, weil nur noch sandlaufende und –grabende Arthropoden-Formen dort sporadisch auftreten. Zu dieser Arten- und Strukturarmut kommt noch eine Übersäuerung des Bodens mit negativen Konsequenzen für die Ufervegetation.

Die Schadensbilder nach Hochwasserereignissen sind aus betroffenen Ortschaften entlang der Donau bekannt. In naturnahen Überschwemmungsgebieten haben die Prozesse längst zu einer völligen Versandung und Auflandung der Böden und auch zu Verschlammung sowie Verlandung von stehenden Gewässern geführt. Auch in aquatischen Uferbiotopen, also jenen Bereichen, die Fische und zahlreiche andere Wasserorganismen zur Fortpflanzung benötigten, liegt inzwischen Sand und sonstiges Feinsediment an Stelle von wasserdurchströmten Steinen. Dies führte zu einem beinahe 100%igen Rückgang von uferbewohnenden Arten, die an die steinigen Untergründe und an die wechselnden Dynamiken der Wasserstände angepasst waren.

Dieser Prozess ist aber nicht neu?

Dr. Bernhard Seidel:
Bereits anfangs der 90er Jahre ergab eine vergleichende Untersuchung von Ufer- und Augebieten mit Bereichen im Kulturland, dass das Artenspektrum entlang staugeregelter Flüsse jenem einer pestizidbehandelten Maisacker Monokultur im Monat August entspricht, wo einige wenige flugfähige und sandlaufende Lebensformtypen zuwandern. Meist sind das räuberische Käfer oder Spinnen, die jedoch zu den dynamischen Uferprozessen nichts Adäquates beitragen können. Selbst die klassischen Auengelsen, deren Eigelege an trockenen Stellen oft jahrelang auf Hochwasser warten können und dann nach Hochwasserereignissen massenhaft schlüpfen, werden schon von geringen Lagen der Feinmaterialien schwer dezimiert. Die angestammten Arten sind somit alle verschwunden. Wie schon mehrfach gefordert, wäre eine versierte Lösung dieser Problematik im hohen Maß überfällig.

Wir danken für das Gespräch.

*Anmerkung der Redaktion:
Von Gebirgsflüssen spricht man in den Fällen, bei denen der Fluß eine so hohe Fließgeschwindigkeit besitzt, dass er das geschiebe mitnimmt und das Flussbett daruch vertieft.